Intellektuelles Profil

Den Gegenstand meines Denkens bildet die Entwicklung der modernen Welt. Dabei gehe ich von einer engen Beziehung zwischen der Entwicklung ihres sozioökonomischen und politischen Seins und des zugehörigen Bewusstseins aus, ohne hier eine "Abhängigkeit" in die eine oder andere Richtung vorauszusetzen. Mein Ansatz ist entwicklungsgeschichtlich orientiert und kritisch sowohl in Bezug auf die in der westlichen Welt vorherrschenden sozialwissenschaftlichen Methoden und Theorien als auch hinsichtlich der Praxis der modernen westlichen Gesellschaften, ihrer Politik und Ethik.

Den Beginn der Moderne und damit den Zeithorizont meiner Überlegungen knüpfe ich an den Beginn der europäischen Überseeexpansion, der durch die beiden welthistorischen Ereignisse der "Entdeckung" Amerikas durch Christoph Kolumbus und des Seewegs nach Indien durch Vasco da Gama markiert wird. Eine solche Verortung impliziert eine Perspektive, die Entwicklung und Unterentwicklung, Modernität und Kolonialität als zwei Seiten derselben Medaille betrachtet. Wenn die Geschichte Europas und des Rests der Welt seit dem Beginn der Kolonialzeit gegenseitig aufeinander bezogen sind, müssen regionale und nationale Entwicklungen seit dieser Zeit nicht nur, aber auch aus ihren Interferenzen mit der Entwicklung des internationalen Systems verstanden werden. Das Phänomen der "Modernisierung" umfasst dabei folgende auch gewaltsam durchgesetzte Entwicklungen, durch die die autochthonen, vormodernen Ordnungen zum Teil zerstört, zum Teil aber auch nur überlagert wurden:

  • Politisch: die "Verstaatlichung" der Welt im Sinne der Ausdehnung staatlicher Ordnung über den gesamten Globus; die weitgehende Befriedung Europas durch die Auslagerung kriegerischer Konflikte zwischen den europäischen Mächten, später auch den europäischen "Flügelmächten" USA und UdSSR, in außereuropäische Räume.
  • Sozioökonomisch: die "Industrialisierung" der Welt im Sinne der Ausdehnung einer spezifischen Form der Arbeitsorganisation und der Ausbeutung von Naturressourcen; die Entwicklung Europas durch die Einbeziehung außereuropäischer Räume in sein sozioökonomisches System als Rohstofflieferanten, Absatzmärkte und Auffangbecken überschüssiger Arbeitskraft.
  • Kulturell: die mit der Christianisierung Amerikas beginnende "Zivilisierung" der Welt im Sinne der Ausdehnung europäischer Denk- und Lebensweisen; die Entwicklung eines politisch-sozialen Bewusstseins in Europa, das die eigene Entwicklung überhaupt als "Entwicklung", "Fortschritt" oder "Zivilisation" und alle Räume, in die das staatliche und industrielle System noch nicht vorgedrungen ist, als "unterentwickelt", "rückschrittlich" oder "barbarisch" betrachtet.

Während der Kolonialismus auf diese Weise Europas (und Nordamerikas) Entwicklung zur modernen Industriegesellschaft beförderte, hat die koloniale und postkoloniale Abhängigkeit in den südlichen Ländern zu Verwerfungen in der sozioökonomischen als auch politischen Entwicklung geführt, die bis heute nachwirken. Zwar bildeten sich im Schatten des Zweiten Weltkriegs und des beginnenden Kalten Kriegs zunächst erfolgreiche Emanzipationsbewegungen gegen diese Abhängigkeit (Populismus in Lateinamerika, Dekolonisationsbewegungen in Afrika und Asien, Blockfreienbewegung). Die zunehmende Überlagerung des aufkommenden Nord-Süd-Konflikts durch den Ost-West-Konflikt seit den 1960er Jahren, der sich nur die größten Länder des Südens, Indien und China, entziehen konnten, strukturierte die innenpolitischen Konfliktlagen in den postkolonialen Räumen jedoch in eine Richtung, die zu Diktatur und/oder Bürgerkrieg führten. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts haben es zumindest die Länder Lateinamerikas und Südostasiens geschafft, sich weitgehend politisch zu emanzipieren und ökonomisch zu stabilisieren, während große Teile Afrikas und des Mittleren Ostens im Chaos zu versinken drohen.

Während der herrschende sozialwissenschaftliche Diskurs in der westlichen Welt (Modernisierungstheorien, Systemtheorien, Transformationsforschung etc.) die koloniale Vergangenheit und ihrer Rückwirkungen auf die Gegenwart weitgehend ausblendet und sich daher den Vorwurf der "Ideologie" gefallen lassen muss, stellen die kritischen Gegendiskurse des globalen Südens (Dependenztheorien, Subaltern Studies, Postkolonialismus etc.) gerade diesen Zusammenhang in den Mittelpunkt. Als kritischer Sozialwissenschaftler sehe ich mich daher diesen gegenüber verpflichtet. Schließlich darf eine kritische Sozialwissenschaft nicht bei der Theorie stehen bleiben, sondern muss auch einen praktischen Anspruch erheben. Die Entwicklung der letzten 500 Jahre hat der Welt zwar einen nie gekannten materiellen Wohlstand beschert. Doch ist dieser Wohlstand nicht nur extrem ungleich verteilt, die Produktion dieses Wohlstandes durch die gnadenlose Ausbeutung von Mensch und Natur hat den Planeten auch an den Rand des ökologischen Kollapses geführt. Die kritische Analyse der Entwicklung der modernen Welt muss daher in einer Kritik sowohl der Politik als auch der Ethik der Moderne münden.